in Zusammenarbeit mit
Ursula Panhans-Bühler
Eine Standortbestimmung
in Umbruchzeiten
30 Wochen Veranstaltungen
Das Programm 2011
in 5 Blöcken zum Ausklappen
Bilder, Lectures,
Beschreibungen, Links.
RABBIT'S TRAIL
FRISE-Programmreihe, initiiert von Matthias Meyer und Stefan Moos;
Team: Allan Dorr, Matthias Meyer, Stefan Moos, Eva Riekehof, Lola Romboy, Sylvia Schultes;
in Zusammenarbeit mit Ursula Panhans-Bühler
2. MÄRZ BIS 23. NOVEMBER 2011
RAPID RABBIT ist ein Feldforschungsprojekt in Zeiten des digitalen Umbruchs. Eine Gruppe von Künstlern aus der FRISE wollte wissen, wie zum Zeitpunkt 2011 „ Das Digitale“ unseren Bildbegriff, im weiteren Sinn unser Denken und Handeln verändert hat. Die Reihe und mithin ihre Darstellung auf raprab.net spiegeln diese Auseinandersetzung und können als Referenzpunkt für aktuelle Betrachtungen dienen.
Die Idee von RAPID RABBIT erläutert eine » Einführung. Eine Projektbeschreibung mit Resümee gibt es » hier zu lesen. Diese findet sich außerdem auf dem Plakat:
Plakat » per E-Mail bestellen oder » downloaden
Einführung
Seit etwa knapp zwei Jahrzehnten vollzieht sich auf der Basis digitalisierter Information, d. h. digitalisierter Datenproduktion, Datenströmen und Kommunikation, eine Wandlung nicht nur des Bildverständnisses und des Umgangs mit Bildern (und akustischen Daten), sondern zugleich auch eine Veränderung der künstlerischen Praxisfelder, die den »erweiterten Kunstbegriff«, der sich seit den 60er Jahren etabliert hat, noch einmal entscheidend verschiebt. Die elektronische Revolution ist jedoch, wie jedermann weiß, nicht eine Domäne der großen medialen Kommunikationsindustrien auf der einen Seite und der ›kleinen‹ künstlerischen Zirkel einer kulturellen Reflexion auf der anderen Seite geblieben. Vielmehr kann man von einer neuen Alphabetisierung sprechen, an der sich jeder beteiligen kann – und beteiligt – der das Alphabet der immer einfacher werdenden Programmbefehle erlernt. Das Internet hat die beispielsweise von Brecht beklagte Einbahnstraße der Kommunikation längst in ein gewaltiges rhizomatisches Kommunikationssystem in beide Richtungen verändert. Internetplattformen und -foren erlauben es tendenziell jedem, kreativ zu werden, eigene Produkte hochzuladen und so zu kommunizieren – eine neue PopArt, wenn man so will, und durchaus mit ihren eigenen Ambivalenzen und Sog- oder Suchtmomenten.
Wir stellen in unserer Ausstellungsreihe die Frage an Künstler, Filmemacher, Musiker, inwieweit diese neue Ausgangslage ihre eigene Arbeit verändert hat und weiter verändert. Zentrale Fragestellung von »Rapid Rabbit – Beschleunigte Bildwelten« ist daher das veränderte Selbst- und Weltverständnis bildender Künstler in diesen Zeiten einer digitalen Informationsexplosion, wie sie sich in einer exponentiell gewachsenen Bilder- und Bewegtbildproduktion, aber auch in akustischen Produktionsfeldern, Sprache und Musik, niederschlägt.
Die Veränderungen betreffen nicht allein die Geschwindigkeit der Bildproduktion und -verbreitung. über die Selbstbebilderung in kommunikativen Netzwerken, sowie die globale Abrufbarkeit optischer und akustischer Informationen verschiebt sich zugleich das Verhältnis von Privatsphäre und öffentlichkeit. Die Ortslosigkeit digitaler Bilder und Töne, ihre ubiquitäre Verfügbarkeit, ihre ›Stofflosigkeit‹, d. h. Virtualität führt auch zu einer Auflösung klassischer Identitätsbegriffe. Ein neuer symbolischer Raum der Phantasie mit gänzlich neuen Ambivalenzen technischer und emotionaler Natur schlägt sich in Verherrlichung und/oder Dämonisierung, oder aber in Formen kritisch-konstruktiven Umgangs damit nieder. So ist für manche Künstler die Kategorie der „Verlangsamung“ entscheidend geworden – bei Duchamp war dies schon angeklungen mit dem Begriff Verzögerung. Im kulturellen Sinne spielt Verlangsamung eine entscheidende Rolle, wenn es nicht nur ums ›Mitstreamen‹, sondern ums ›Mitkommen‹, d. h. eine neue kreative Medienkompetenz geht.
Die neuen kulturindustriellen, künstlerischen und ‚popkulturellen‘ elektronischen Produktions- und Kommunikationsformen werfen andererseits interessante Fragen im Hinblick auf demokratische Zielvorstellungen auf. Wird die tendenzielle mediale Sprachfähigkeit eines jeden demokratische Verständigungsformen erleichtern und kultivieren, wird sie uns die trübsten und finstersten Seiten einer Entsublimierung (ganz ohne autoritäre Repression), einer Preisgabe von Tabus bescheren – im Netz sind ja nicht nur die Empfänger (voyeuristisch) anonym, sondern auch, wenn sie wollen, die Sender – oder, was wahrscheinlicher ist, sind wir vor neue kulturelle Aufgaben kommunikativer Selbstregulierungen gestellt?
In 5 Programmblöcken wollen wir mit diesen Fragestellungen den neuen kreativen Verhältnissen nachgehen, das Programm verstehen wir als Forschungssituation. Innerhalb jedes Blocks kommen dabei Künstler, Sound Artists, Fachreferenten, Produzenten mit und (noch) ohne Diplom zum Zuge. Auf den Monitoren im Internetcafé sind Arbeiten aus dem Netz zum Thema zu besichtigen. Neben Positionen aus der westlichen Kultur zeigen wir Fotoarbeiten, Animationen, Video- und andere Arbeiten chinesischer Künstler, über deren spezifische Art der Alltagsdarstellung, des Menschenbilds und ihrer Widerständigkeit zu sprechen sein wird.
Jeden 6. Mittwoch wird eine neue Ausstellung eröffnet, die den Rahmen für Performance und Austausch bietet. Jeweils ab 20h. Sonntags offene Runde 16 – 19 h
Ursula Panhans-Bühler
Projektbeschreibung und Resümee
Bist du bei Facebook? Eine Frage, die aktuell die Welt der Computerbenutzer in 2 Fraktionen teilt: Für die einen ist es Attitüde, für die anderen Selbstverständlichkeit; die Trennlinie ist vor allem generationenbedingt. Und dann gab es im Jahr 2011 auch noch jene, die hin- und hergerissen waren zwischen dem Argument, dass man – gerade als Künstler – nicht jeden Scheiß mitmachen müsse, und jenem, dass man – als Künstler – auf jeden Fall dabei sein sollte. Letztlich ging es bei den Gesprächen der Künstlergruppe aus der FRISE in Hamburg nicht um Facebook – es ging um die Frage, wie sich unser Arbeiten im Zeitalter der Digitalisierung eigentlich wirklich ändert. Daraus wurde RAPID RABBIT – Beschleunigte Bildwelten, das FRISE-Jahresprogramm 2011.
Schnell wurde deutlich, dass über die Frage nach dem Bild die Bereiche Sound, Film, Wissenschaft und Alltag nicht ausgeblendet werden dürften – und dass wir auch Vertreter der genannten jüngeren Fraktion dabeihaben wollten. So weit das Setting also war, so spezifisch wurde die Reihe: durch die Charakterisierung als offene Forschungssituation – mit Gästen aus dem näheren und weiteren Umfeld; durch die Präsentation digitaler Produktionen neben analogen; und durch die Aufteilung in 5 Blöcke mit jeweiligem Fokus: Veränderungen des Ortsbegriffs (1); neue Dynamiken durch das Internet (2); Formen des Erinnerns, Speicherns, Vergessens (3); Abgründe (4); verändertes Menschenbild (5). Gedankliche Grundlage bildeten Gespräche mit Ursula Panhans-Bühler – die die Reihe unterstützte – über Vilém Flussers „Ins Universum der technischen Bilder“. Dieser hatte in der Digitalisierung bereits 1985 eine kulturelle Umwälzung ohnegleichen gesehen, an deren Ende (zugespitzt) nichts weniger stehe als das Ende des linearen Denkens, das sich auflöse in ein mosaikartiges Bild-Punkte-Universum, was wiederum den Menschen vor die Aufgabe stelle, ganz neue Umgangsweisen mit den Apparaten zu finden, wolle er nicht Letzteren die Definition des Weltensinns komplett überlassen.
So weit beeindruckt und ein wenig hysterisiert, ging das Team die Reihe an, über 30 Wochen fanden Ausstellungen, Screenings, Vorträge, Konzerte, Diskussionen und studentische Groupshows statt. Patron der Reihe war der Hase als Schutzheiliger aller Hakenschlagenden, 2 Tierpaten nahmen sich jeweils eines Blocks an. Das komplette Programm ist unter raprab.net (Link) zu finden, es folgt ein Rückblick auf RAPID RABBIT samt Resümee.
Chatroulette war 2011 der Porsche unter den Kontaktbörsen: schnell, effektiv – und geröhrt wird auch. Zeig ich dir meinen, zeigst du mir deinen; im schnellen Rhythmus der Mausklicks werden Kontakte geknüpft und beendet. Neben dem Zurschaustellen von Körperteilen kann man schreiben und sprechen – oder sich beim Bügeln, Kochen, Gitarrespielen beobachten lassen – die Welt zu Gast in Bild, Ton und Schrift. Ist da wer? Vorteile: Exhibitionistische und voyeuristische Gelüste werden ebenso befriedigt wie der Hang zum globalen Feeling. Und der Gesundheit ist es auch förderlich – keine Kneipenbesuche, also reduzierter Bierkonsum und weniger Unfälle (andererseits: weniger Bewegung sowie Kneipen- und Brauereisterben).
Was bedeutet diese Innovation jenseits der genannten Konsequenzen? Im Flusserschen Sinne hat die Maschine ein handfestes weiteres Stück Kontrolle übernommen, nach einem unkontrollierbaren Zufallsautomatismus teilt sie Partner zu, die, gleichsam Pawlowsche Hasen, adhoc das jeweils gefragte Reaktionsprogramm anschmeißen. Dies geschieht angesichts elektronisch erzeugter Bilder und Sounds, die aus nichts als 0en und 1en bestehen und im Zusammenspiel die Illusion einer komplexen Begegnung schaffen. Für diese Art von Kontakten – so nah und doch so fern – scheint im derzeitigen menschlichen Repertoire die nötige Kompetenz zu fehlen, wie es der Clip „No Fun“ von 0100101110101101.ORG (Link) belegen mag. Er zeigt die groteske Unfähigkeit, mit der Chatroulette-User reagieren, wenn das ihnen zugespielte Gegenüber sich offenbar gerade erhängt hat: Lachen, Staunen, Gröhlen bis hin zur Masturbation – und per Next-Taste wegklicken, der Rückzug in den virtuellen Schutzraum: Ist ja alles nicht echt, geht mich nix an. Zum Glück gab es den einen, der bei der Polizei anrief.
Das Chatroulette-Beispiel führt zu einem Fragen-Double, das die Veranstaltungsreihe begleitete: Sind zivilisatorische Fehlleistungen wie die beschriebene Ausdruck einer Entfremdung durch die Technik – oder macht diese nur etwas sichtbar, das sowieso immer da war? RAPID RABBIT inszenierte dazu eine Chatroulette-Versuchsanordnung; im von Daniela Witzel thematisch ausgemalten Ausstellungsraum waren Beamer, Webcam, Rechner und Tastatur so verteilt, dass er zum Chatroom wurde. Partner in allen Bekleidungslagen wurden zu den FRISE-Besuchern projiziert; überrascht vom Setting, begaben sich manche der elektronischen Gäste aus Malta, Chile oder Taiwan schreibend, posend und sonstwie kommunizierend in Austausch – ein Hauch weite Welt wehte bis spät um die FRISE-Bar. Nimmt man zu diesem Experiment die Chatroulette-Konzerte von Ben Folds (Link), lässt sich beobachten: Die Tasten können auch anders bedient werden als vorgesehen und zu neuen Formen virtuell-realer Begegnungen führen – und darüber zu Happenings, über die sich wiederum die Brauindustrie freuen kann.
Die Face-to-face-Kommunikation bei Chatroulette verweist auf eine zentrale Verheißung des Internets: das Ende der Sender-Empfänger-Hierarchie. Im Prinzip kann jede Äußerung an den Potentaten und Programmchefs der Welt vorbei in die Welt gepostet werden. Handy-Clips von den Militäreinsätzen auf dem Tahrir-Platz verbreiteten den Protest innerhalb Ägyptens in der „Facebook-Revolution“ und frappierten die Weltöffentlichkeit. Die Verschleppung von Iman al-Obeidi am 26. März 2011 aus einer Gruppe westlicher Journalisten heraus, als Clip im Netz und in der RAPID RABBIT-Ausstellung gelandet, prangerte simultan weltweit die libysche Diktatur an – und zeigte die Hilflosigkeit der Presse. Wackelkamera und schlechter Ton versahen die Dokumente mit der Aura der Echtheit und ließen das Gesehene näher wirken, als Bilder aus der Tagesschau es vermögen (Link). Neben solchen Beispielen von alternativem Webjournalismus wurden neue künstlerische und Unterhaltungsformate gezeigt. Bei Ersteren stechen feine, ätherische Formen hervor, die ohne die Öffentlichkeit des Internets wohl eher einem kleinen Kreis vorbehalten gewesen wären wie die „Tales of Mere Existence“ von Lev Yilmaz (Link), Handzeichnungen, die im Moment des Entstehens von der Blattrückseite abgefilmt werden. Drastische Hasen-Animations-Filme des Chinesen Wang Bo erweisen sich als im Tierkörper versteckte Regimekritik (Link). Memes, durch Klickzahlen weltweit bekannt gewordene Clips, lassen sich meist so kategorisieren: Entweder es handelt sich um Found Footage, wobei entweder Sound oder Bild zur humoristischen Verfremdung neu dazugegeben wurden; oder man sieht Leute, die mindestens so gewöhnlich sind wie du und ich, aber noch dämlichere Dinge tun, z. B. schlecht singen oder sich sonstwie blöd anstellen; dritte Möglichkeit: diese Leute sind wie Stars, ohne welche zu sein (Link). Das Geheimnis des Erfolgs all dieser Clips von YouTube, Vimeo etc. scheint folgendes zu sein: Privat trifft auf Öffentlich. Der User wird Zeuge eines persönlich erlebten Unglücks, einer Äußerung, einer Entblößung und ist gebannt von dieser Zeugenschaft, im Wissen, diese mit einer Masse von Usern zu teilen. Das Spannungsverhältnis von wie zufällig dem Verborgenen Entrissenen und Weltpublikum ist der Humus für den Erfolg des Drei-Minuten-Clips. Dass hier eine neue Art Direktheit, Echtheit, aber auch Abgründigkeit entstanden ist, als andere Kanäle sie zu bieten vermögen, zeigt die Performance des Auschwitzüberlebenden Adolek Kohns, der mit seinen Enkeln am Ort des Grauens zum Song „I will survive“ tanzte (Link?).
Im Labor zum Abschluss des 2. Blocks schufen die Studenten der Klasse von Michaela Melián an der HfbK Hamburg eáne räumliche Zuspitzung der Sogmomente der Internetrealität. An mehreren Orten im Ausstellungsbereich waren Chatstationen mit Beamprojektionen aufgebaut, die Besucher waren aufgefordert, sich chattend über die vorgefundene Situation auszutauschen, es entstand eine Konkurrenzsituation samt Überlagerungserscheinungen zwischen der elektronischen und der räumlich analogen Kommunikation (Link auf Website).
Was bedeutet die neugefundene Erkenntnis „Das Netz vergisst nicht“ für die Archivlust sammelwütiger Künstler und Nichtkünstler? Werden sie durch Google-Bildersuche von ihren Eichhörnchen-Aufgaben entbunden und können sich anderem widmen? Oder müssen neue Wege des Vergessens gegangen werden, um den Balast nicht zu groß werden zu lassen? Im dritten Block wurde deutlich, auf wie verschiedene Weisen künstlerische Strategien auf das Nebeneinander von analoger und digitaler Bildpraxis reagieren. Roy Arden nutzt die explosionsartig gesteigerte Verfügbarkeit von Bildmaterial für seine wuchernden Bildblogs und seinen Foto-Film „The world as will and representation“ (Link). Die abgründigen Bildblogs von Katharina Salzbrunn (Link) wurden im Auto-Scroll-Modus gezeigt. Beiden gemein ist, dass sich Bilder aus allen Epochen der Fotografie finden, assoziativ in eine lineare Erzählform gebracht. Der kreative Akt des Verknüpfens wird bei Allan Dorrs und Michael Bests „Angels of the annunciation“ eher karikiert, indem er wiederum einer Software überlassen wird, die aus Porno-Pics ein Marienbildnis montiert (Link). Allgemein erscheint die elektronische Sortierung des Materials wie ein Akt der Bändigung der unablässig quellenden Bilderfluten; ein Eindeichungsreflex des analogen Bildbenutzers, der noch gelernt hat, Bilder in überschaubarer Zahl aus der Zeitung zu schneiden. Dagegen wirkte der Ausschnitt aus Ralf Weißleders analogen Archiven eher in die Fläche und uferte in den Raum, wobei die Spur des Sammlers sichtbar wurde (Link). Willem Oorebeeks „Afterblackout“ einer Jesusdarstellung war daneben eine Art drucktechnisches Schweißtuch der Veronika. Eine Anwendung analoger Techniken auf digitale Bildwelten wurden sichtbar in den Werken von Jochen Lempert, Philipp Haffner und Norbert Bayer. Lempert zieht Fotogramme vom Monitor und kehrt auf diese Weise Cyanotypien von Anna Atkins nach 160 Jahren ins Positiv; Haffners Weltraumschrott-Handzeichnungen sind gleichsam vom Monitor weganalogisierte Maschinenbilder; Bayer schafft im Ministeckverfahren pseudodigitale Pixelpics. Eine ähnliche Art der Implantation digitaler Bilderfahrungen in ein analoges Setting schuf Jeongmoon Choi in ihrer Faden-Schwarzlicht-Installation. Die Besucher pendelten in der Raumwahrnehmung zwischen einer Raumsimulation mit digitaler Anmutung und den zu erahnenden Dimensionen des Ausstellungsraums.
Die Beispiele mögen zeigen, dass Bildersammeln im menschlichen Repertoire bleiben mag, wobei die technischen Möglichkeiten neue Spielarten ermöglichen. Dennoch scheint angesichts der Masse und der Verfügbarkeit der Schwerpunkt des Umgangs mit dem Material verändert: Es geht weniger ums Finden, mehr ums Kombinieren. Die spielerische wie analytische Vermischung zweier Seh- und Produktionsweisen darf auch als Abarbeitung am Prozess einer grandiosen kulturellen Umstellung gedeutet werden. Zu Bild wird diese in den Fotos von Martin Zellerhoff, dessen fotografierte Spuren analoger Bildtechnik gleichsam der Abgesang auf eine Epoche sind.
(4. Schweine & Weltall)
Bringt das Digitale neue Abgründe hervor – oder sind sie nur leichter herzustellen und zu verbreiten? In der Ausstellung waren Anschauungsbeispiele wie das Video „Collateral Damage“ zu sehen, mit dessen Veröffentlichung WikiLeaks bekannt wurde, sowie Berichterstattungen über die 2011 öffentlich gewordenen Morde des „Kill Teams“ – US-Soldaten, die sich in Afghanistan mit von ihnen ermordeten Zivilisten fotografierten. Um es gleich zu sagen: Nein, die Taten sind dieselben geblieben wie seit Erfindung des Krieges und des Bildes. Das belegte Petra Bopp in Wort und Bild im Vortrag über private Soldatenfotografie im Zweiten Weltkrieg: Fotos von Erschießungen, Leichen, Zerstörung. Diese fanden früher mangels Internet nicht den Weg in die Öffentlichkeit, heute sind sie teures Sammlergut. Heute wie damals kann der Auslöser der Kamera zur Shift-Taste werden, der das Beteiligtsein an dem, was um einen vorgeht, verschleiert und den Fotografen aus der Situation hebt. Motive wie die Siegerposen auf geschändeten Leichen, erstmals 2006 aus Abu Ghuraib bekannt, sind zeitloses Beiprogramm des Krieges. Die Ausstellung zeigte Kriegsbilder aller Epochen, darunter Alexander Gardners drapierte Sezessionskriegsleichen von 1862/63 als Diashow, Privatfilme und Fotos aus dem Vietnamkrieg sowie Handyclips der ersten Opfer der syrischen Aufstände auf iPods (Link).
Was also ist anders – und wie sieht die künstlerische Praxis aus, wo es um die Verarbeitung von Tod und Abgründen geht? Boris Groys diagnostiziert, dass Schockbilder heute zum großen Teil maschinengeneriert sind – siehe das Helikoptervideo von WikiLeaks – und dass die Herrschaft über sie bei denen liegt, die sie ins Netz einspeisen, nicht mehr bei Institutionen wie Galerien und Museen. Die Ausstellung zeigte zwei unterschiedliche Strategien der künstlerischen Umsetzung von Abgründen aller Art. Auf der einen Seite Formen der nichtbildlichen Evozierung wie im (Kriegs-)Licht-Sound-Tunnel von Youssef Tabti (Link) und in den Hiroshima-Grafiken von Christoph Rothmeier (Link). Auf der anderen ging es um den Bereich der Simulation ein, somit der Computerspiele und ihrer Derivate.
Harun Farockis „Serious Games“-Reihe (Link) zeigt die Praxis des US-Militärs, Soldaten mit einer Simulations-Software auf den Krieg vorzubereiten und sie später – auf Basis derselben Programme – durch Retraumatisierung von psychischen Schäden zu kurieren. Die Darstellung einer Therapiesitzung zu Schulungszwecken demonstriert eine Verschiebung der Wahrnehmung in digitalen Zeiten: Für den Probanden wird seine eigene – erfundene – Schilderung einer Kampfszene zur ihn erschütternden Realität, als deren computergenerierte Umsetzung ihm über eine Spezialbrille eingespielt wird. Animation verlässt den Bereich der Imitation, sie gereicht zur Wirklichkeitskonstruktion. Ein weiterer Beleg für die Kraft von Animation mag „The External World” von David O'Reilly sein, er führt so eindrücklich in menschliche Abgründe, wie es Realfilme kaum leisten können (Link).
Second Life ging 2003 online, und der Untergang des Abendlandes schien bevorzustehen, da ebendieses scharenweise verlassen wurde und neue virtuelle Welten erobert und besiedelt wurden – in neuen, schickeren Körpern. Von SL spricht heute kaum noch jemand, doch wurde 2009 die Flucht aus dem Körper – eines Querschnittsgelähmten – in einen intakten gesunden zum narrativen Vehikel in James Camerons Megablockbuster „Avatar“. Der 18-jährige Jakob Meyer hatte zum Ausklang des 4. Blocks und zur Einstimmung in den 5. eine Führung durch die virtuellen Räume des Online-Spiels „Guild Wars“ angeboten und den ungeübten Ausstellungbesuchern demonstriert, dass die Gestaltgebung der gewählten Spielfigur zur selbstverständlichen Verrichtung geworden ist – wie Haarebürsten. Heißt: Das Bild von den Formen des menschlichen Körpers ist mit der Digitalisierung in Bewegung geraten, dies war der Aufhänger für Block 5. Wenn Martin Arnold (Link) das Gesicht der Jeanne d'Arc aus Theodor Dreyers Film von 1928 zu einer Sequenz zusammenmorpht, entspricht dies auf den ersten Blick den Verwertungsstrategien vorher gezeigter Positionen wie von William E. Jones oder Roy Arden: gefundenes Bildmaterial in aktueller Technik zu etwas Neuem zu machen. Bloß sieht man es hier nicht, und die Erkenntnis der Manipulation schleicht sich gleichsam von hinten an, wodurch alles – jede Veränderung des menschlichen Körpers – denkbar wird. Auf die Bildwerdung realer Körper wies Claudia Reiche in ihrem Vortrag über das Human Visible Project (Link) hin: Scheibchenweise gescannte Leichen kreieren ein nie da gewesenes digitales Abbild des Menschen für wissenschaftliche Zwecke. Einen Gegenpol bildete die Installation und Perfomance Achim Lengerers (Link) auf den Spuren des Wolfsjungen, der frei von analogen wie digitalen Kulturmustern pure Existenz verkörpert. Auf mögliche Leerstellen im menschlichen Personal weist Jan Jellinek mit der Figur der Ursula Bogner hin (Link), deren musikalisch-künstlerisches Schaffen als Schriftobjekte gezeigt und als Soundevent performt wurde.
Erstens: Ja, es gibt ihn, den von Flusser beschriebenen Zusammenhang von Technikfortschritt, kapitalistischer Verwertungslogik und menschlicher Faulheit, gepaart mit Neugier und Spieltrieb. Wie in einem großen Hase-Igel-Spiel treibt sich die digitale Umwandlung der Lebenswelten selbst voran, wobei der menschliche Hase sich nichts sehnlicher wünscht, als die ihm unverständliche gespenstische Fähigkeit des Digi-Igels erwerben zu können, immer schon da zu sein. Die Apparate-Blackbox entzieht sich endgültig der Nachvollziehbarkeit, neustes Beispiel im Juni 2012 ist die „Lytro“, die erste Lichtfeldkamera für den breiten Markt. Das später vom Computer zu errechnende Bild wird bei diesem Verfahren von hunderten Minilinsen aufgenommen, die je eigene Aufnahmen generieren – der „Fotograf“ drückt nur noch eine Taste – dies ist die wesentliche Technik, die der User praktiziert.
Zweitens: Der Mensch dahinter ist derselbe – selbst wenn Pics und Clips aus Chatroulette oder aus Kriegsgebieten etwas anderes zu zeigen scheinen. Das neue Schockbild vom Menschen ist der Apparatelogik von digitalen Geräten und Internet geschuldet, was wiederum ein Beleg für Flussers These sein mag, dass Bilderfluten den Dingen Bedeutung geben und nicht mehr, wie früher, Ausdruck eines Erklärungsversuchs der Welt sind. Internetforen und Videoplattformen funktionieren prächtig, da der müde Hase die Läufe schonen kann, im Liegen kommuniziert er mit der Welt der Artgenossen und begafft sie; doch wird er auch dessen müde, wenn die ersten Verschleißerscheinungen sichtbar werden. Die Wackelkamera hat 2012 an journalistischer Schlagkraft eingebüßt – seit ein Handyvideo, das die inhaftierte Julija Timoschenko als Simulantin entlarven sollte, als Fälschung erkannt wurde. Schon seit „Lonelygirl 15“ von 2006 kündigt sich an, dass das Frische des neuen Mediums in rasender Geschwindigkeit von kommerziellen Verwendern absorbiert und damit entwertet wird.
Drittens: RAPID RABBIT ist Ausschnitt und Beleg eines gewaltigen Aneignungsprozesses in mehrere Richtungen. Im Flusserschen Sinne geht es darum, beim Bedienen der Tasten den möglichen Freiraum auszuloten und zu erweitern. Die vergleichsweise breite Verwendung analoger Techniken und Materialien im Kunstbereich ist nicht traditionalistisch, sie kann vielmehr als Auseinandersetzung mit dem Neuen, Immateriellen, das in der Luft liegt, begriffen werden – zur größtmöglichen Ausschöpfung der im Digitalen liegenden Möglichkeiten. Dabei wird dann Analogpapier vom Monitor belichtet, digitale und analoge Bilder werden überlagert, Street Art dient als Basis für einen Animationsclip, Fäden werden zu einem 3-D-Modell etc. Das heißt, Seh- und Produktionserfahrungen aus der analogen wie der digitalen Sphäre werden probeweise aufeinandergelegt und auf verschiedenste Weisen kombiniert. So entstehen Formen, wie sie kein Apparat hätte erdenken können und erweitern das Repertoire. In dieser Logik mag auch kürzlich ein Paint-Tool in Chatroulette gelandet sein, mit dem sich Chatpartner porträtiert gegenseitig porträtieren können. Der ständig wachsende Anteil digitaler Muttersprachler wird dabei zur ständigen Veränderung der Kombinationen und Möglichkeiten beitragen – auf kommende Hasenrennen darf man gespannt sein.
Stefan Moos
Das Projekt wurde unterstützt von der Kulturbehörde Hamburg und der Stiftung Kunstfonds